
Warum Stressvermeidung auf Dauer in die Falle führt
Viele Menschen, v.a. mit Traumafolgestörungen, versuchen, Stress um jeden Preis zu vermeiden, weil sie oft die Erfahrung gemacht haben, dass ihr Nervensystem in sehr dysregulierte Zustände geraten kann, in denen sie sich dann völlig überwältigt fühlen. Kurzfristig schützt die Stressvermeidung – doch auf Dauer wird die Welt enger, und schon kleine Belastungen fühlen sich völlig überfordernd an. Erfahre, warum Stresstoleranz nur durch kleine Schritte wächst und wie du aus der Vermeidungsfalle herausfinden kannst.
Kurzfristige Sicherheit vs. langfristige Falle
Menschen mit komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (kPTBS) und anderen Traumafolgestörungen wissen: Stress und Anforderungen können überwältigend sein. Viele haben gelernt, ihr Leben so zu gestalten, dass möglichst wenig Belastung entsteht – mit viel Rückzug, festen Routinen und Unterstützung im Alltag.
Das wirkt im ersten Moment heilsam und stabilisierend. Doch langfristig birgt die totale Stressvermeidung eine große Falle: Das Nervensystem verlernt, mit Reizen umzugehen – und das Fenster der Toleranz wird immer kleiner.
Warum wir Stress nicht völlig vermeiden sollten
Unser Nervensystem ist darauf ausgelegt, mit wechselnden Reizen und Herausforderungen umzugehen.
Doch für Menschen mit Traumafolgestörungen können schon kleine Alltagsreize – die Türklingel, ein unerwartetes Telefonat, ein Brief vom Amt – überwältigend und schwer auszuhalten sein. Wird das Leben dann so organisiert, dass jeglicher Stress vermieden wird, passt sich das Nervensystem an:
- Es trainiert nur noch „Ruhe und Schonung“.
- Jeder kleine Reiz wird als gefährlich eingestuft.
- Die Fähigkeit zur Regulation nimmt ab.
➡️ Das Ergebnis: Statt stabiler zu werden, wird man immer empfindlicher.
Stabilisierung vs. Vermeidung - Worin liegt der Unterschied?
- Stabilisierung: Rückzug, Routinen und Schonung sind in akuten Phasen wichtig. Das Nervensystem braucht Erholung und Sicherheit, um sich zu beruhigen.
- Dauerhafte Vermeidung: Wenn es beim Rückzug bleibt, ohne dass kleine Schritte in die Welt zurückgeführt werden, verengt sich das Leben. Aus Schutzräumen werden Käfige.
Das Prinzip der achtsamen Dosis-Erhöhung: Warum Stresstoleranz wie Muskeltraining ist
Stresstoleranz ist wie Muskeltraining:
- Phase 1: Schonung – damit Heilung beginnen kann.
- Phase 2: Belastung – aber in kleinen, dosierten Schritten.
- Phase 3: Progression – die Dosis wird langsam erhöht, damit Kraft und Stabilität wachsen.
Wer nie wieder trainiert, verliert Muskelkraft. Wer sein Nervensystem nie wieder dosiert belastet, verliert Resilienz und Flexibilität.
Ein Beispiel aus der Praxis - Wenn Schutzräume zu Käfigen werden
Petra, 48 Jahre:
Nach einem Klinikaufenthalt richtet sie ihr Leben völlig stressfrei ein. Erwerbsminderungsrente, Putzhilfe, Betreuer, lange Morgenroutinen, Yoga, Journaling, Meditation, Spaziergänge, Teezeremonien. Zunächst ist das eine große Erleichterung.
Doch nach zwei Jahren fühlt sie sich wie abgetrennt vom Leben. Schon ein kurzer Einkauf überfordert sie. Sie sagt: „Ich habe mich sicher gefühlt, aber nicht lebendig.“
In der Therapie beginnt sie mit Mini-Dosen von Stress: einmal pro Woche 5 Minuten alleine einkaufen, danach sofort regulieren. Später 10 Minuten, dann kurze Gespräche an der Kasse. Nach sechs Monaten berichtet sie: „Es ist noch anstrengend, aber ich spüre wieder, dass ich mit der Welt verbunden bin.“
Die IFS-Perspektive: Wenn Beschützer das Kommando übernehmen
Aus Sicht der Internal Family Systems (IFS)-Therapie könnte man übermäßige Stressvermeidung als Arbeit bestimmter Beschützer-Anteile deuten.
Diese Anteile wollen mit aller Kraft verhindern, dass verletzte innere Kinder (Exiles) mit ihren überwältigenden Gefühlen ans Licht kommen. Deshalb organisieren sie das Leben so, dass es „möglichst stressfrei“ bleibt: keine Arbeit, keine Behördengänge, keine Konflikte.
Auf den ersten Blick wirkt das fürsorglich – und tatsächlich schützt es zunächst vor Überlastung. Doch langfristig entsteht eine innere Blockade:
- Manager-Anteile verharren in Überkontrolle.
- Reaktive, oft extreme Beschützer-Anteile springen ein, sobald doch Stress und Anforderungen auftauchen, und versetzen uns in den Ausnahmezustand.
- Verletzte Anteile bleiben isoliert und unversorgt.
Das Selbst – also die innere, ruhige und mitfühlende Instanz - ist völlig in den Hintergrund gedrängt und kann das innere Team nicht mehr führen.
Therapeutisch bedeutet das:
Wir arbeiten nicht gegen diese Schutzteile, sondern mit ihnen. Wir fragen zum Beispiel:
- „Was befürchtest du, würde passieren, wenn du nicht ständig alles vermeidest?“
- „Wovor willst du mich bewahren?“
Oft lautet die Antwort: „Dann würde die alte Verletzung wieder aufbrechen, und das wäre tödlich.“
Hier entsteht der Schlüssel: Wenn das Selbst Schritt für Schritt Führung übernimmt und die Schutzteile spüren, dass dosierte Stress-Erfahrungen sicher begleitet werden, entsteht ein neues Gleichgewicht. Teile müssen nicht mehr mit totaler Vermeidung reagieren – weil sie merken, dass Regulation gelingt und das System nicht mehr untergeht.
➡️ In der IFS-Sprache: Stresstoleranz wächst, wenn Beschützer Vertrauen ins Selbst entwickeln und kleine Experimente zulassen können. Und wenn so das Selbst in der alltäglichen Lebensgestaltung mehr Raum bekommt.
Warum kleine Schritte entscheidend sind
- Neuroplastizität: Unser Gehirn verändert sich durch Erfahrung. Nur wenn es übt, mit Stress umzugehen, bleibt diese Fähigkeit erhalten.
- Lernfähigkeit & Wachstumszone: Neuropsychologisch können wir nur dann lernen und Neues integrieren, wenn unser Nervensystem reguliert ist. In Zuständen von Über- oder Untererregung ist der präfrontale Kortex blockiert, und wir handeln im Überlebensmodus. Entwicklung geschieht in der Wachstumszone – dort, wo wir uns fordern, aber noch regulierbar bleiben. Dafür brauchen wir Kompetenzen der Selbstregulation. Aus IFS-Perspektive bedeutet das: Zugang zu den Selbstqualitäten (Ruhe, Klarheit, Mitgefühl, Zuversicht), die es ermöglichen, innere Anteile sicher zu führen und Integration zuzulassen.
- Selbstwirksamkeit: Kleine Erfolgserlebnisse („Ich habe es geschafft!“) stärken Vertrauen in die eigene Fähigkeit.
- Soziale Teilhabe: Ohne Dosis-Erhöhung schrumpft das Leben auf Routinen im Rückzugsraum. Mit Dosis-Erhöhung entstehen wieder Begegnungen, Sinn und Lebendigkeit.
Die Balance: Sicherheit UND Wachstum
Der Schlüssel liegt im sowohl-als-auch:
- Sicherheit und Selbstfürsorge sind unverzichtbar, besonders in instabilen Phasen.
- Dosierte Konfrontation mit kleinen Stressreizen ist ebenso wichtig, um Toleranz aufzubauen.
Das bedeutet:
👉 Nicht in die totale Überforderung stürzen.
👉 Aber auch nicht im Rückzug verharren.
👉 Sondern kleine, machbare Schritte üben – regelmäßig, freundlich, mit Selbstmitgefühl.
👉 Und genau diese Fähigkeit zur Selbstführung und Selbstregulation lässt sich im geschützten Rahmen einer therapeutischen Begleitung Schritt für Schritt entwickeln.
Du möchtest mehr über IFS erfahren oder suchst therapeutische Begleitung?
Dann melde dich gerne – ich begleite dich dabei, behutsam deine Stresstoleranz aufzubauen, deine Selbstregulation zu stärken und Schritt für Schritt wieder Zugang zu deiner inneren Kraft und Lebendigkeit zu finden.